Demenz und Corona

Demenz und Corona – ein Erfahrungsbericht

Demenz und Corona - ein Erfahrungsbericht

Lange habe ich überlegt, ob ich mich zu diesem Thema im Blog äussern soll. Gestern erschien auf meinem privaten Facebook-Account ein Post, der sich ebenfalls damit beschäftigt und die Resonanz darauf war für mich ein Zeichen, ein paar Worte dazu zu schreiben. Menschen, von denen ich kaum Feedback bekomme, gaben mir ein Däumchen, ein Herzchen, eine Umarmung. Danke dafür!

Jeder pflegende Angehörige, der sich um einen demenziell veränderten Menschen in Zeiten von Corona kümmert, hat das Recht auf Akzeptanz und Respekt und ausserdem meine Hochachtung.

Als Ende Februar plötzlich unsere beschauliches Heimatstädtchen Heinsberg in aller Munde war, änderte sich die Welt.

Natürlich sorgt man sich um die Kinder, den Mann, die Freunde – aber da war bei mir noch viel mehr. Wie verhält man sich bei der Pflege eines demenzerkrankten Menschen nun richtig?

Es begann zunächst damit, dass meine Mutter oft auf Besuch ihrer Enkel und Urenkel verzichten musste, was auch nach immer wieder geführten Gesprächen zur Erklärung nicht wirklich auf Verständnis stieß.

Weiterhin wurde meinerseits auf Berührung, den obligatorischen Kuss und die Umarmung verzichtet. Nach etwa vier Wochen der „Abstinenz“ fragte ich meine Mutter, ob ihr denn aufgefallen sei, dass sie nicht mehr berührt würde. Sie jammerte „Ja, warum ist das so?“ und wieder führten wir das Corona-Gespräch.

Meine Mutter hat den zweiten Weltkrieg erlebt. Irgendwie brachte sie die Situation damit in Verbindung. Und sie erzählte von einem Urgroßvater, der seherische Fähigkeiten gehabt haben soll. Er habe vorausgesagt, dass im Jahre 2020 eine Krankheit herrschen wird, die verursache, dass Menschen kilometerweit gehen müssen, um andere Menschen zu treffen. 

Ganz so schlimm ist es zum Glück nicht gekommen.

 

In diesem Erfahrungsbericht hier betone ich gern nochmals, dass ich meine Mutter bei jedem Telefonat und jedem Besuch wieder auf die Lage rund um Corona informiert und ihre Sorgen angenommen habe. Diese bezogen sich jedoch nie darauf, krank zu werden, sondern immer nur darauf, dass sie kaum noch Besuche empfangen konnte.

Pflege auf Abstand?

Wie also pflegt man als Angehöriger einen demenziell veränderten Menschen auf Abstand?

Als meine Mutter noch zuhause lebte, gab es mehrere Institutionen, die an der Pflege mitgewirkt haben. Zunächst der tägliche Pflegedienstbesuch. Ein bisschen panisch wollte ich die Leitung anrufen und fragen, ob denn auch alle Hygienerichtlinien befolgt würden?

Nach einigen, sachlichen Überlegungen und „mich selbst runterholen“ war ich der Überzeugung, dass dort schon alles seine Richtigkeit haben wird. 

Der tägliche Mittagstisch – der gleiche Impuls.

Die Alltagsbegleitung – erneut. Zumindest musste ich durchsetzen, dass vorerst keine Ausflüge und Cafébesuche stattfinden sollen. Dies hatte sich aber dann mit dem Lockdown später sowieso erledigt.

Besuch der Familie? Geburtstagsfeier? Meine WhatsApp an die Familie mit der Bitte, wenn man sich krank fühlt, doch bitte zuhause zu bleiben und auf den Geburtstagsbesuch zu verzichten bzw. ihn auf später zu verschieben, hat dazu geführt, dass meine Mutter ihr „volles Haus“ vermisste und anfangs noch eine gewisse Pikiertheit über soviel Sorge meinerseits herrschte. Natürlich habe ich das verstanden.

Die Tagespflegen waren geschlossen. Immer mittwochs besuchte meine Mutter die Tagespflege. Das war ein Fixum im Kalender. Plötzlich fiel dieses Fixum weg. Eine Änderung in der Alltagsstruktur bringt demenziell veränderte Menschen fürchterlich aus dem Konzept. Daraufhin folgten mehrere Wochen Orientierungslosigkeit bei den Wochentagen. Da half auch der große Wandkalender nicht mehr, an dem sich meine Mutter zuvor noch in etwa orientiert hat.

Pflege im Alltag

Welche Sicherheitsvorkehrungen trifft man beim Einkauf? Anfangs habe ich jedes eingekaufte Teil, das für meine Mutter besorgt wurde, peinlich desinfiziert, bevor es in den (Kühl-)schrank wanderte.

Für mich war anfangs klar, dass ich meine Mutter nur noch mit Handschuhen und Maske besuche. Das stiess auf große Verwirrung. Meistens besorgte ich mir hautfarbene Handschuhe, die nicht auffielen oder versteckte sie in langen Pullover-Ärmeln. Mama hat es nicht verstanden, dass alles nur zu ihrem Schutz geschah, sie vermutete, ich ekele mich plötzlich vor ihr. Was für eine schlimme Vorstellung!

Ebenso der MNS. Anfangs, als es hier den dramatischen Engpass bei der Schutzausrüstung gab, fingen alle halbwegs handwerklich geschickten Menschen an, Masken zu nähen (Hochachtung!) Bei Mama trug ich immer die bunten und fröhlichen. Leider kann man hinter so einer Maske nicht von den Lippen ablesen, was meine Mutter wegen ihrer Hörschwäche immer noch viel einsetzt. Und ein Lächeln konnte auch nicht mehr erkannt werden. Es graute mir vor dem Tag, wo meine Mutter mich um Maniküre bat, denn das ging weder auf Abstand noch ohne Maske und Handschuhe. Ich erinnere mich an diesen Sonntag sehr gut. Mein erstes Mal mit MNS, ich musste glatt ein Selfie machen und ahnte nicht, wie normal der MNS demnächst werden würde.

Abenteuer Krankenhaus

Die Sorge, die ebenfalls von Anfang an hatte, bestätigte sich dann Anfang Mai. Meine Mutter war schlimm gestürzt und wurde per RTW ins Krankenhaus gebracht. Die bisherigen Krankenhausaufenthalte waren immer schon Besorgniserregend und Aufrührend, aber nun bekam die Situaltion noch eine andere Dramatik. Ich meldete mich telefonisch beim Krankenhaus und schilderte die Situation, dass meine Mutter nicht in der Lage sei, allein in der Notaufnahme zurecht zu kommen. Das Krankenhaus sagte mir, dass es nicht erlaubt sei, dazu zu kommen. Ich bin dennoch dorthin gefahren und durfte im Wartebereich der Notaufnahme Platz nehmen, natürlich in kompletter Schutzausrüstung. Direkt neben der Notaufnahme befand sich die Radiologie, in der meine Mutter offensichtlich gerade geröntgt wurde.

Ihre Schmerzensschreie werde ich nie vergessen.

Nach einem Gespräch mit einem Pfleger und einem Arzt durfte ich schliesslich ins Behandlungszimmer eintreten, skeptisch beäugt von einer Schwester. Die Aussagen, ob ich meine Mutter auf Station begleiten dürfe, gingen von „Selbstverständlich“ bis „Auf keinen Fall“ innerhalb von 20 Minuten. In den folgenden Tagen wurde ich nur durch intensives Betteln zu meiner Mutter vorgelassen und den Rest erledigte ich telefonisch. 

Was mir in dieser Zeit besonders auffiel, war die Rat- und Hilflosigkeit des Pflegepersonals, die ich selbst auch in mir spürte. Wie bekommt man es hin, jemanden zu pflegen, der ganz andere Bedürfnisse hat als jene, die aktuell erlaubt sind? Und dieser Jemand fern ab von Corona erkrankt ist und trotzdem alle Aufmerksamkeit braucht?

Wie kann ich in dieser Situation Trost spenden, wenn sogar das Tätscheln der Füsse meiner Mutter durch die Bettdecke schon verboten ist?

Unsere Übereinkunft

Später, als meine Mutter aus dem Krankenhaus entlassen wurde, in ihre neue Seniorenwohngemeinschaft gebracht wurde und per Rollstuhl weinend aus dem Krankentransporter gezogen wurde, habe ich alle Dämme brechen lassen. Ich habe sie umarmt, geküsst und getröstet.

Wochen der Abstinenz und fehlender Berührungen habe ich in diese Minuten hineingelegt. Und ich habe mich im Nachhinein fürchterlich gegrämt.

Hatte ich meine Mutter nun endgültig in Gefahr gebracht? Ich, die nichts mehr wollte, als sie zu schützen?

Wir haben dann gemeinsam später lange darüber gesprochen und es wurde klar, dass meine Mutter nichts schlimmer findet als die fehlenden Berührungen und den MNS. Es ist ihr völlig egal, ob sie an Corona erkrankt, die körperliche Nähe ist ihr wichtiger.

Und so, mit diesem Einverständnis halten wir es nun. Natürlich bin ich weiterhin übermässig vorsichtig, aber vernachlässige keine Berührung, Hände halten und kaum einen Kuss mehr.
Und es geht uns beiden gut dabei.

Die Kraft der Berührung

Ich bin der Meinung, ich persönlich kann eine liebevolle und der Krankheit meiner Mutter angepasste Pflege ohne Berührung nicht gewährleisten. Das ist unsere ganz eigene Entscheidung.

Seitdem geht es meiner Mutter und auch mir viel besser. In keiner Weise stelle ich hier zur Debatte, wie richtig oder falsch das ist. Jeder sollte in der Pflege eines Angehörigen mit diesem gemeinsam überlegen und entscheiden.

So ist es bei uns gewesen. Was die Zukunft bringt? Ich weiß es nicht – wer weiß das schon? Der unsichtbare Gegner ist definitiv da. Aber meine Mutter und ich haben noch einen viel größeren, unsichtbaren Gegner: und das ist die ZEIT.

Mein erstes Mal mit MNS
Das war das Selfie, das ich vor der Maniküre gemacht habe.